In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 11./12 Juni beschäftigt sich Heribert Prantl mit der Frage nach der Bedeutung der christlichen Kirchen in unserer Zeit. Er meint, diese seien ungeachtet aller Skandale als Wertegemeinschaften und orientierende Instanzen in Sachen Liebe, Gerechtigkeit, Versöhnung, Sinn des Lebens und Tod unverzichtbar. Humanität sei nicht angeboren und individueller Glaube, auch nur an Bedingungsloses und Unverfügbares, sei flüchtig. Der Staat aber dürfe und könne auf die letzten Fragen keine Antworten geben. Dabei bemüht er den Satz Bockenfördes: „Der moderne, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ All dies beruht auf einem zweifachen Irrtum.
Zum einen geben die Philosophie des Westens, unter anderem in Gestalt der Ethik, gelehrt bereits in der Antike etwa durch Aristoteles und die Stoa, ebenso wie Kant mit dem kategorischen Imperativ und die ähnliche volkstümliche „goldene Regel“, ebenso Orientierung wie die Philosophie und Psychologie des Buddhismus, wonach alle Menschen, auch Feinde, als Brüder und Schwestern anzusehen sowie zu behandeln sind und der Mensch sich an nichts klammern, also die Kunst des Loslassens erwerben sollte. Zum anderen mag der moderne, säkularisierte Staat zwar die von Bockenförde genannten orientierenden Grundlagen nicht garantieren können, da die Grenzen des Strafrechts zu Recht eng gezogen sind, aber er kann sie doch durch geeigneten Philosophieunterricht bereits in den Schulen vermitteln, und nichts spricht dagegen, dass er das darf.
Es ist verständlich, dass Prantl und die vielen Millionen weiterer Deutscher, die an einen Gott glauben und (noch) Mitglieder der katholischen oder evangelischen Kirche sind, an ihrer Gemeinschaft festhalten wollen und schon deshalb Sinn in ihr suchen. Aber sie sollten doch nicht verkennen, dass der Mensch sich nicht zuletzt an Vorbildern ausrichtet, die Vertreter der Kirchen bis in die Gegenwart hinein aber allzu oft kein gutes Beispiel für Orientierung gegeben haben und ein sinnerfülltes, humanes Leben des Einzelnen und eine darauf aufbauende Gesellschaft der Kirchen nicht bedürfen. Allerdings sollte der Staat angesichts der beständig abnehmenden Zahl der in den christlichen Kirchen Organisierten den Schulunterricht wieder weniger als Vorbereitung auf das Berufsleben, sondern auf die Gesamtheit des Lebens („…sed vitae discimus“!) verstehen und daher das Fach Philosophie, vor allem Ethik, zügig intensivieren und erweitern – ein Wunsch von so vielen….