Du und das Mischwesen

9. April 2008 | Von | Kategorie: Mikroskop

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“. Diese unverhoffte Mutation kam dem armen Gregor kafkaesk vor, und da lag er bekanntlich nicht ganz falsch. Ein Mensch mit dem Äußeren eines gepanzerten, dünnbeinigen Insekts ist allerdings tatsächlich eher unappetitlich. Besser erging es dem Schäfer im Gilgamensch-Epos und König Lykaon: Sie wurden von der Göttin Ishtar respektive von Zeus immerhin zu Wölfen verwandelt, die wesentlich ansehnlicher sind.

Auf halbem Wege verharrt dagegen der der germanischen Mythologie entsprungene, schier unsterbliche Werwolf („Mannwolf“): Er wird nur bei Mondlicht zum blutdürstigen Vierbeiner und nimmt bei Tagesanbruch wieder menschliche Gestalt an, weshalb man sich Werwölfen möglichst tagsüber und nachts nur bei zuverlässig bedecktem Himmel nähern sollte.

Andauernd zur Hälfte Tier ist  dagegen der Kentaur, der Pferdemensch der griechischen Mythologie; er hat den Kopf, die Schultern, die Arme und die Brust eines Menschen, im Übrigen aber den Körper und die Beine eines Pferdes. Zur Abstammung der Kentauren bietet die griechische Mythologie selbstverständlich eine herrliche Geschichte. Danach belästigte der betrunkene thessalische König Ixion Hera, die Gattin des Zeus, worauf Hera dem Ixion eine Wolke mit ihrer Gestalt schickte, die Ixion „anstach“. Damit zeugte er einen Bastard, der sich später mit Stuten paarte und so die Kentauren schuf, die es auch in weiblicher Ausführung gab.  Nach einer anderen, jugendfreien Version entstanden die Kentauren direkt aus der Wolke, der so genannten Nephele.

Wie öde geht dagegen wieder einmal unsere Epoche mit dem Thema Mischwesen um! Wir werfen das wunderbare Reich der Phantasie kurzerhand auf den Müll  und machen uns allen wissenschaftlichen Ernstes daran, tatsächlich Mischwesen zu schaffen. Britische Forscher haben aus menschlichem Erbgut und Eizellen von Kühen bereits Embryonen produziert. Diese sind zwar nach einigen Tagen im Labor zerstört worden, aber nicht zufällig wurden vergleichbare Experimente zuvor erfolgreich auch  in den USA, in China und angeblich auch in Südkorea durchgeführt. Kritiker nennen diese Versuche „Frankenstein-Experimente“. Dieser Vergleich ist freilich zumindest ungenau, da Mary Shelley uns nicht wissen ließ, aus welchen Materialien und auf welche Weise Viktor Frankenstein seinen Unhold schuf, und ob das Monster ein Mischwesen oder nur eines der missratenen Exemplare des homo sapiens war, von denen seit Menschengedenken Unmengen die Welt bevölkern.

Wie dem auch sei: Bisher hat noch niemand die Wissenschaft dauernd daran gehindert, zu realisieren, was sie kann, und so tun wir wohl gut daran, uns mental auf Bemerkenswertes einzurichten. Nur so mag es uns gelingen, nicht einmal mit der Wimper zu zucken, wenn es klingelt und der Gerichtsvollzieher  als halber Greifvogel vor uns steht, die Bedienung in der Kneipe tatsächlich eine Wespentaille und die Kassiererin im Drogeriemarkt  nicht nur das Hinterteil eines Pferdes, sondern auch vier Beine hat. Es wird kaum ein Zufall sein, dass der durch seine Weitsicht erfolgreiche Großdrogerist Dirk Rossmann in seinem Firmenlogo bereits einen Kentaur zeigt….

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