Zeitung und Internet

18. Januar 2008 | Von | Kategorie: Teleskop

In der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. Januar 2008 erschien ein Artikel von Willi Winkler unter dem Titel „Die Zeitung von morgen“, der nachfolgend in wichtigen Auszügen zusammenfassend wiedergegeben und kommentiert wird.

Zunächst  berichtet Winkler  über die euphorischen, ganz im revolutionären Stil der späten sechziger Jahre  formulierten Träume, die Hans Magnus Enzensberger  1970 mit den neuen elektronischen Medien verband – lange vor der Erfindung des PC und der allgemeinen Nutzung des Internets. Enzensberger meinte damals, zum ersten Mal in der Geschichte machten „die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden.“ Die Nutzer der neuen Medien würden unter anderem „frei wie Tänzer“ und „überraschend wie Guerilleros“ sein. Tendenziell würden die neuen Medien „alle Bildungsprivilegien und damit auch das kulturelle Monopol der bürgerlichen Intelligenz“ aufheben.

Spätestens seit 1968, so Winkler, als die publizistische Übermacht des Springer Verlages „von allen Revolutionären durchschaut“ worden sei, hätten nicht wenige von ihnen auf eine Emanzipation von den etablierten Medien gehofft. Schließlich habe „man nach der Gleichschaltung der Zeitungen im Dritten Reich mit Recht um die Freiheit der Presse“ gefürchtet. In diesem Zusammenhang erwähnt Winkler den gescheiterten Plan Adenauers aus dem Jahr 1953, ein so genanntes Informationsministerium zu errichten, und über die Spiegel-Affaire 1962 einschließlich des  damaligen Anrufs Adenauers bei Springer, der genügte, um einen  harschen Kommentar Sebastian Haffners dazu in der Welt  zu verhindern. Ferner berichtet Winkler über die Äußerungen Paul Sethes aus dem Jahr 1965, Pressefreiheit sei „die Freiheit von zweihundert Leuten, ihre Meinung zu verbreiten“. Der anders denkende Journalist habe zwar aufgrund der Verfassung das Recht zur Meinungsäußerung, aber die Ökonomie zerstöre es. Frei sei nur, wer reich sei. Diese Feststellungen bezeichnet Winkler als „melancholisch“ und „längst verjährt“ und fährt fort:

„Nicht mehr zweihundert reiche Meinungsmachtbesitzer, sondern Milliarden Tipper und Blogger streuen Ansichten zu allem und jedem ins Netz“. Fast alle würden nur von so wenigen Nutzern wahrgenommen, dass man sich „angesichts des Furors, mit dem sie ihre Meinungen ins Land rufen, Sorgen um ihre psychische Stabilität machen könnte“. Da sie aber untereinander gut verlinkt seien, entstehe „immerhin ein Meta-Geschwätz, das niemals mehr enden“ werde. Es handele sich nicht um Guerilleros, sondern um eine „von sich selbst berauschte digitale Boheme“. Manchmal komme es selbst „in diesem bei aller Schnelligkeit so geistesträgen Medium“ wie dem Internet gar zu „syndromalen Effekten“. Als Steven Spielberg 2005 seinen Film über den Anschlag auf die Olympischen Spiele 1972 angekündigt und angedeutet habe, dabei auch die Sache der Palästinenser bedenken zu wollen, sei in der Blogger-Szene ein Überbietungskrieg ausgebrochen, bei dem schließlich behauptet worden sei, dass die Bundesregierung unter Willy Brandt nazistisch und von der Stasi geführt gewesen sei. Dies könne nur das Internet. Jede Zeitung sei voller Fehler, aber im Internet würden sie vervielfacht. Winkler erwähnt dabei unter anderem eine Meldung von Bild-online vom 14. September 2007, Edmund Stoiber solle in Brüssel „Beauftragter für Demokratie-Abbau“ werden, die allerdings nach weniger als einer Stunde korrigiert wurde. Schließlich ist bei Winkler in eher unklarem Zusammenhang noch von „den Net-Analphabeten“ die Rede.

Die Zeitung dagegen, so Winkler, habe sich in den letzten vierhundert Jahren „kaum verändert“. Sie berichte „über Katastrophen“, beschwöre „den jeweils bevorstehenden Weltuntergang“ und gebe dem Leser „gern das eine oder andere Mittel dagegen an die Hand.“ Die Zeitung berichte „getreulich“ und kaue wieder, „was schon immer Nachrichtenmaterial“ gewesen sei. Dies sei schön und ihre Aufgabe, aber „kaum mehr zeitgemäß“. Die „großen Portale des Internet“ könnten das besser, zumal dort auch verhandelt werden könne, „was nicht unbedingt in die richtige Zeitung muss oder am nächsten Tag bereits veraltet wäre“. Zum anderen komme die Zeitung „mit ihrem langen Druck- und Verteilungsprozess“ ohnehin häufig zu spät. Die Zeitung sollte dagegen nach Winklers Auffassung „auf mehr setzten als auf Nachrichten“ und zudem all dies sein: „Unaktuell, verspielt, erzählerisch, unnütz, einigermaßen kunstvoll und also: literarisch“. Als leuchtende Beispiele benennt Winkler den sukzessiven Abdruck des Romans „Der Antiquitäten-Laden“ von Charles Dickens in der Zeitschrift „Master Humphrey´s Clock“ und den vor einigen Wochen verblichenen Hugh Massingbeard, der im Daily Telegraph die Seite mit Nachrufen betreute und jahrzehntelang Gelungenes über Gestorbene schrieb. Dies sei „ein Mann von gestern für die Zeitung von morgen.“

Herr Winkler hat schon wesentlich bessere Artikel geschrieben. Überzeugend ist weder seine idyllische Schilderung der guten alten Zeitung, noch sind es seine Tiraden gegen die Nutzer des Internet, die dort Nachrichten und  Meinungen durch Zeitungen,  Zeitschriften  oder schlicht als Blogger veröffentlichen.

Die Zeitung ist ein Produkt des Menschen, der bekanntlich fehlerhaft ist. Zeitungen haben denn auch seit jeher unendlich viel Unsinn verzapft. Im Dritten Reich wurden sie  nicht nur gleichgeschaltet, sondern haben dies zum Teil auch selbst besorgt, wobei sie ihre jüdischen Mitarbeiter nicht selten schmählich im Stich ließen. Auch war die Springer-Presse in den späten Sechzigern und zu Anfang der siebziger Jahre von dem gelinde gesagt konservativen Weltbild des Axel Springer geprägt und dabei durchaus meinungsmächtig. Paul Sethes damalige Anmerkungen über die Freiheit der Presse, die sich allzu sehr in der Freiheit einer relativ kleinen Zahl von Personen erschöpfte, zu verbreiten und zur Meinung zu machen, was ihrer Sicht entsprach, waren denn auch nicht „melancholisch“, sondern gaben die damalige Lage durchaus klar und nüchtern wieder.

Auch heute besteht die deutsche Zeitungslandschaft beileibe nicht nur aus Blättern wie beispielsweise der Süddeutschen Zeitung oder der Frankfurter Allgemeine Zeitung, sondern auch aus Unsäglichem wie Bild, ferner aus einer Vielzahl weiterer Boulevardblättchen  und regionaler Postillen, die grundlegende Informationsbedürfnisse nicht befriedigen, geschweige denn nennenswert zur Bildung ihrer Leser beitragen.

Überdies wächst, was Herrn Winkler nicht entgangen sein sollte, auch auf  den seriösen Bäumen des deutschen Zeitungswaldes bisweilen Abwegiges.  So hat Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung soeben zur Gewalttätigkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund offenbar die – vorsichtig formuliert – sonderbare  Meinung vertreten, „dass die Mischung aus Jugendkriminalität und muslimischem Fundamentalismus potentiell das ist, was heute den tödlichen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts am nächsten kommt.“ Ein paar Schläger ausländischer Herkunft auf einer Ebene mit den Verbrechen des Nationalsozialismus? Wo ist da qualitativ der entscheidende Unterschied zur Bezeichnung einer von Willy Brandt geführten Regierung, in der immerhin ein gewisser Günter Guilleaume sein Unwesen trieb, als „nazistisch und von der Stasi gesteuert?“  Selbst im Wirtschaftsteil der – von der Nachtgazette  außerordentlich geschätzten – Süddeutschen Zeitung waren durchaus schon Formulierungen  zu lesen, die  diesseits  eher wirr erschienen.   

Schließlich betreffen die zahlreichen Fehler bei der Wiedergabe von Fakten, die auch der Süddeutschen Zeitung unterlaufen, durchaus nicht immer nur Kleinigkeiten; nicht selten werden sie von ihr selbst korrigiert, aber eben nicht bereits knapp eine Stunde später wie bei Bild-online in dem Fall des angeblichen Demokratie-Abbaus durch Edmund Stoiber, sondern frühestens nach einem Tag in der nächsten Ausgabe.

Die von Winkler angesprochenen Probleme der weiteren Entwicklung der Zeitung sind soweit hier erkennbar ebenso wenig neu wie sein Lösungsvorschlag.

Der Zeitungsmarkt ist seit geraumer Zeit in Bewegung, was unschwer an den zunehmenden Übernahmen von Presseverlagen ablesbar ist. Seit geraumer Zeit hat die nahezu alle Bereiche der Gesellschaft  durchdringende Ökonomisierung auch die Branche der Zeitungen erfasst. Die Verleger bzw. Aktionäre der großen Zeitungsverlage, in die zunehmend auch Finanzinvestoren drängen, wollen Profit, und daher gilt es, Renditen zu erwirtschaften. Die Konsequenzen daraus sind einschneidend. Winkler lässt sie bei seiner idyllischen Schilderung der guten alten Zeitung aus naheliegenden Gründen gänzlich unerwähnt. 

Zum einen hat der kostspielige investigative Journalismus schon lange kaum mehr eine Chance in den Redaktionen der Tageszeitungen. Mehrere Journalisten großer deutscher Zeitungen und Zeitschriften haben dem Verfasser dieser Zeilen in den letzten Jahren anlässlich des begründeten Hinweises auf beträchtliche Wirtschaftskandale resignierend mitgeteilt, für Recherchen der Redaktion sei schlicht kein Geld mehr vorhanden. Da dies in den USA nicht anders ist, darf bezweifelt werden, ob die Aufdeckung eines Skandals wie der um Watergate durch eine Zeitung heute noch möglich wäre.

Zum anderen erwirtschaften auch die großen Tagezeitungen ihre Gewinne schon lange nicht mehr mit den Zahlungen von Abonnenten und den Erlösen aus dem freien Verkauf ihrer Blätter, sondern vor allem mit Anzeigen, insbesondere Werbeanzeigen der Wirtschaft, überdies mit Werbebeilagen und dem Vertrieb von Büchern, CDs, DVDs und so fort. Im Bereich der Werbung aber gilt nun einmal der eherne Grundsatz, dass anschafft, wer zahlt. Kritische Kommentare zum Verhalten von Personen oder Gesellschaften,  die im jeweiligen Blatt massiv Werbung plazieren,  würden daher die sehr reale Gefahr beinhalten, deren weitere  Werbeaufträge zu Lasten der Rendite schnell zu verlieren.  Umgekehrt wählen die großen Unternehmen der Wirtschaft für ihre Werbung gern die Zeitungen aus, deren Kritik an ihren Vorgehensweisen besonders unwillkommen wäre.  Dem dadurch entstehenden Druck der Werbenden einerseits und der Aktionäre der Träger der jeweiligen Zeitung halten die  Redaktionen nur selten  stand.  John Carroll, ehemaliger Chefredakteur der Los Angeles Times, wies bereits 2006 darauf hin, dass sich Journalisten immer mehr den Zeitungsaktionären verpflichtet fühlen statt ihren Lesern. Und Giovanni die Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, führte bei der letzten CSU-Medienkonferenz (vorsichtig, aber immerhin) aus, die Unabhängigkeit der Redaktionen schwinde, und manchmal hätten Leser das Gefühl, dass ihre Zeitungen „nicht mehr unbedingt ihr Anwalt sind, sondern Verbündeter jener, die sie eigentlich kontrollieren sollten“. Insofern hat sich die Lage gegenüber 1965 substantiell geändert. Nicht  zweihundert reiche Verleger sind es heute, welche die Pressefreiheit einschränken, sondern – um bei der willkürlichen Zahl zu bleiben – zweihundert Großunternehmen der Wirtschaft und  in ihrem Gefolge  die Aktionäre der Gesellschaften, welche die Zeitungsverlage halten. Nicht unerwähnt sei auch, dass man hinsichtlich der Sitte, selbst vertriebene Bücher, Cds, DVDs usw. im redaktionellen Teil der Zeitung zu beschreiben und zu beurteilen, zumindest  geteilter Meinung sein kann.   

Winklers Kritik am Internet anhand des revolutionären Pathos eines Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1970 ist ein  Kunstgriff.  Das damalige revolutionäre Schwadronieren der 68er wird  heute von vornherein mit Distanz wahrgenommen. Überdies waren Voraussagen über kommende Entwicklungen im Medienbereich bisher zumeist ebenso falsch wie fast alle Vorhersagen der Zukunftsforscher; man erinnere sich nur an die Lorbeeren, die an die an das private Fernsehen vor seinem Start verteilt wurden. Die Anknüpfung an alte, revolutionäre Träume über die Zukunft der elektronischen  Medien schafft daher eine irreale Vergleichsgrundlage und versperrt  so den Blick auf das Wesentliche. Ein wahrhaft aussagekräftiger Vergleich sollte ausschließlich die heutigen Gegebenheiten  zum Gegenstand haben und  dabei beide Seiten kritisch beleuchten. Dann sieht das Ergebnis etwas anders aus. 

Das Internet gibt jedem, der über das nötige Rüstzeug verfügt, die Möglichkeit, mit relativ geringem finanziellen Einsatz Nachrichten und Meinungen zu veröffentlichen – als online-Zeitschrift wie die Nachtgazette oder als bloßer Blogger, und zwar, solange keine Werbung und kein  sonstiges finanzielles  Interesse im Spiele ist, unbeeinträchtigt von wirtschaftlichen Rücksichtnahmen. Dies ist angesichts der geschilderten wirtschaftlichen Zwänge, in denen die Redaktionen der Printmedien sich befinden,  eine außerordentlich positive Entwicklung, auch wenn man sie nicht  aus der Perspektive des  Klassenkampfes betrachtet.

Unbestreitbar hat diese Freiheit der Vielen auch zur Folge, dass enorm  viel Quark veröffentlicht wird, und die Leserzahlen der vielen Internet-Zeitschriften und Blogs, ob mit anderen verlinkt oder nicht, zumindest anfangs gering sind. Bleibt ersteres unverändert, wird sich an letzterem nichts ändern, es tritt jedoch gerade deshalb (ähnlich wie bei  Rednern am Hyde-Park) auch kein nennenswerter Schaden ein. Fehlt es aber nur an der anfänglichen Leserzahl, sieht das anders aus: Eine qualitativ hochstehende Internet-Zeitung oder -Zeitschrift ist  bei aller Phantasie kein Grund für irgendeine Kritik aus dem Bereich der Printmedien, erst recht nicht für Arroganz, sondern schlicht eine Bereicherung der Medienlandschaft.  Sie wird früher oder später ihre Leser finden. Außerdem sind im Internet bekanntlich seit längerem große Presseinstitutionen und ähnliche Unternehmen unterwegs, denen von Anfang an  große Aufmerksamkeit zuteil geworden ist.

Langfristig ist das Internet daher eine ernstzunehmende Bedrohung für die gute alte Zeitung, zumal die Internet-Anbieter ihre Leistungen schneller und – anders als die Printmedien – regelmäßig kostenlos anbieten. Es ist kein Zufall, dass die nordamerikanische Zeitungsindustrie im Jahr 2007 ein Viertel ihres Aktienwertes und in den letzten 15 Jahren rund 14 % ihrer Auflagen verlor; die Süddeutsche Zeitung berichtete in ihrer neuen Serie „Zeitenwechsel“ am 16. Januar 2008 selbst darüber. Danach ist David Talbot, Gründer des online-Magazins salon.com, der vermutlich zutreffenden Auffassung, dass überleben nur die werden, „die weiterhin in ihr redaktionelles Produkt investieren und den Übergang in die digitale Ära meistern“, während Jürgen Habermas zwecks Rettung des seriösen Zeitungswesens laut SZ bereits gesellschaftliche Alimentierungen nach Art des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorgeschlagen hat. Nach allem: Die Lage für die gute alte Zeitung ist ernst. Pauschale, undifferenzierte Beschimpfungen zahlloser Internet-Anbieter von Nachrichten und Meinungen werden daran nichts ändern.

Winklers Vorschlag einer zukünftig mehr literarischen Zeitung lehnt sich soweit hier ersichtlich an Tom Wolfe an, „den Mitbegründer des literarisch eingefärbten New Journalism“ (Süddeutsche Zeitung vom 16.01.2008). Winklers Konzept dürfte freilich eher für wöchentlich oder monatlich erscheinende Publikationen wie Die Zeit oder den Spiegel als für  Tageszeitungen  geeignet sein, die ihre Existenzberechtigung nun einmal vor allem aus der Übermittlung aktueller Nachrichten und ihrer  Kommentierung beziehen; dies schließt nicht aus, dass man literarische Tendenzen sachte verstärkt. Tagtäglich „unaktuell, verspielt, erzählerisch, unnütz, einigermaßen kunstvoll und also: literarisch“ zu sein, wäre dagegen ein Gewicht, an dem sich selbst ein Hochkaräter wie die Süddeutsche Zeitung nur allzu leicht verheben könnte.

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