Herbstgedanken

13. September 2022 | Von | Kategorie: Fotos, Teleskop

Die von Betagten seit jeher gern beschworene „gute alte Zeit“ war  bei näherem Hinsehen oft kaum mehr als eine Illusion, Ausdruck eines Erinnerungsvermögens, das sich auf das erlebte Gute konzentriert. Kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs geborene (West-) Deutsche können jedoch tatsächlich mit einer gewissen Wehmut auf die ersten Dekaden nach 1945 zurückblicken.

Es waren die  Jahre des erfolgreichen Wiederaufbaus, der entgegen anfänglicher Ablehnung sogar bei der CDU (Ahlener Programm) kapitalistisch strukturiert war, aber immerhin lange sozialverträglich blieb. Die Arbeitgeber waren weitestgehend tarifgebunden und die Arbeitnehmer in starken Gewerkschaften organisiert. Es gedieh ein gesellschaftliches Miteinander, das etwa die Einführung der betrieblichen Mitbestimmung ermöglichte. Vor allem gab es noch keinen tiefen Abgrund zwischen wenigen Reichen und vielen Armen, der dieses Miteinander und damit letztlich die Demokratie zerstört. Die Abstände zwischen den Bezügen der Manager und der übrigen Beschäftigten waren akzeptabel, die Unternehmensgewinne  wurden überwiegend in die Betriebe reinvestiert und die Banken dienten vor allem der weiteren Finanzierung  solcher Investitionen der realen Wirtschaft und nicht der Erfindung sinnloser und schädlicher Finanzkonstrukte. Zwischen den zahlreichen Anbietern von Waren und lebensnotwendigen anderen Leistungen bestand – anders als bei  der heutigen  Dominanz weniger, von schamloser Gier gesteuerter  Oligopole – noch Wettbewerb, der die Preise senkte.  „Wohlstand für alle“ war das Ziel, „allen arbeitenden Menschen“ wollte Ludwig Erhard „einen nach Maßgabe der fortschreitenden Produktivität … ständig wachsenden Lohn zukommen“ lassen.

Die soziale Vernunft war nicht zuletzt eine Folge des Verhaltens der führenden Politiker, die von hoher Qualität waren. Selbst die CDU hatte neben Erhard und anfangs Heiner Geißler mit der CDA einen damals einflussreichen Arbeitnehmerflügel. Die SPD verfügte – auch nach dem Godesberger Programm – noch über eine starke linke Fraktion, ferner über beeindruckende, sozial denkende Persönlichkeiten wie Willy Brandt, Gustav Heinemann, Hans-Jochen Vogel  und Helmut Schmidt. Die FDP stellte mit Theodor Heuss den ersten Bundespräsidenten  und hatte nachfolgend mit Karl-Hermann Flach, Werner Maihofer, Gerhart Baum, Hildegard Hamm-Brücher und Burkhard Hirsch ein hervorragendes, verantwortungsvoll handelndes Personal, das leitende Funktionen in der Politik übernahm.

Es gab infolgedessen noch keine Massen von  prekären Arbeitsverhältnissen,  Leiharbeitern und von Scheinselbstständigen. Die Verdienstmöglichkeiten wahrer Selbstständiger  wie  Ärzte, Rechts- und Patentanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer etc. waren gut, da ihre Zahl noch begrenzt war und die wachsende Wirtschaft und Bevölkerung Patienten und Mandanten  in reicher Zahl bot. Die Lohnabhängigen, oft ein Arbeitsleben lang in demselben  Unternehmen tätig,  wurden regelmäßig im Sinne einer Teilhabe am Erfolg angemessen bezahlt; sie  konnten verlässlich planen, ein Auto und ein Eigenheim erwerben, ihren Kindern eine gute Ausbildung bieten und im Urlaub ins Ausland verreisen, zum Beispiel nach Italien oder Spanien.

Die Umwelt schien noch einigermaßen  intakt zu sein, und beständiges Wirtschaftswachstum war ein kaum  in Frage gestellter Glaubenssatz; zwar veröffentliche der Club of Rome  im Jahr 1972 die „Grenzen des Wachstums“, aber kaum jemand richtete sich danach. Man befuhr noch ohne schlechtes Gewissen mit Verbrennungsmotoren das immer weiter ausgebaute Straßennetz und nutzte freudig zunehmend Flugzeuge. Auch die andauernde  Versiegelung der Böden, das Artensterben und  die Vermüllung der Weltmeere mit Plastik  waren  noch keine brennenden Themen. Schließlich stellte  das  erdrückende Wachstum der Weltbevölkerung noch kein wesentliches Problem dar; im Jahr 1976 wurde die Erde von „nur“ vier Milliarden Menschen bewohnt – die Hälfte (!) der heutigen, noch immer wachsenden  Zahl, die eine Abwendung der Klimakatastrophe praktisch ausschließt.

Bereits im Jahr 1957 war  durch die Römischen Verträge die EWG errichtet worden, die weitere Kriege zwischen den europäischen Mächten durch enge wirtschaftliche Verflechtungen der Partnerstaaten verhinderte – ein damals noch hoch geschätzter Aspekt. Mitglieder waren seinerzeit nur die Bundesrepublik Deutschland,  Frankreich, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg. Die erste Erweiterungsrunde kam erst im Jahr 1973, erfasste aber noch nicht die osteuropäischen Staaten, die heute für so viel Unrat und Blockaden in der EU sorgen. Zuvor  war die EWG noch mit großen Hoffnungen auf eine Weiterentwicklung zu einem Bundesstaat Europa verbunden. Freilich wurde verkannt, dass das Einstimmigkeitsprinzip bei wichtigen Entscheidungen angesichts der ständig wachsenden Mitgliederstaaten ein entscheidendes Hindernis für eine solche Weiterentwicklung der Gemeinschaft sein musste.

Gewiss bargen  auch die ersten Jahrzehnte nach dem Kriegsende Schwierigkeiten, man denke nur an die in Behörden und Gerichten noch vorhandenen Nazis, den mörderischen Terrorismus der RAF, das Attentat bei den Olympischen Spielen im Jahr 1972, die kurz darauf ausgebrochene Ölkrise und vor allem an die mit dem Kalten Krieg verbundenen Gefahren.  Aber vergleicht man die Zeit bis zum Ende der siebziger Jahre mit den seither – abgesehen von der deutschen Wiedervereinigung – kontinuierlich gewachsenen und inzwischen gewaltigen, unlösbaren Problemen, auf deren detaillierte Schilderung hier gnädig verzichtet werden soll, so wird doch klar, dass die kurz nach dem Kriegsende in den alten Bundesländern Geborenen dankbar auf eine lange gute Zeit zurückblicken können, die in dieser Qualität bei allem Optimismus nicht einmal annähernd wiederkommen wird. Dass sie nunmehr von hohem Alter, Krankheiten und Tod heimgesucht werden, ändert daran nichts. 

Hinweis: Den sukzessiven Abbau des einstmals weltweit gepriesenen deutschen Sozialstaats ab den achtziger Jahren schilderte der im Jahr 2013 gestorbene Ottmar Schreiner, der letzte aufrechte Linke in der SPD, in seinem 2008 erschienenen, lesenswerten Buch „Die Gerechtigkeitslücke“, das antiquarisch noch zu haben, leider aber nicht mehr aktuell ist.

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